Kurzzusammenfassung - Berge
Cerro de Pajonal4930 m
Cerro Colorado5748 m
Cerro Sairécabur5971 m
Volcán Láscar Westgipfel5500 mnur bis zum Westgipfel
Cerro de Taapacá5775 m
Volcán Parinacota6342 m
Cerro Huayna Potosí6088 m
Nevado Illimani6460 m

Bergsteigen in Chile und Bolivien
Im Reich des Condors

Reisebericht Nordchile/Bolivien 1996

05 Mai bis 08. Juni 1996

Hartmut Bielefeldt und Claudia Bäumler

Verfasser dieses Textes: Hartmut Bielefeldt
Dummerweise ist uns die ursprünglich geplante Reise zehn (!) Tage vor der Abreise abgesagt worden (ein "namhafter deutscher Bergreiseveranstalter"...). Da müssen wir wohl das Beste daraus machen. Im nachhinein besehen, ist uns das sicher gelungen. Also schnell einen Flug nach Santiago gebucht, und da sieht man dann schon weiter.

Sonntag, 5. Mai 1996

Stuttgart - Santiago
Am Sonntagmorgen um Viertel nach zehn landet das Flugzeug in Santiago de Chile - 29 Stunden, nachdem wir mit dem Zug in Friedrichshafen abgefahren sind. Von Stuttgart, einem modernen, aber trotzdem etwas mickrigen Flughafen, ging es erst nach London und nach drei Stunden Pause weiter. Eine weitere Stunde Aufenthalt gibt es in Rio de Janeiro; wenigstens ist es inzwischen hell, so daß wir nach dem Start einen Blick auf die Gegend dort werfen können. Die Überquerung der Anden führt sehr nahe am Aconcagua vorbei; ein großer, fast unvergletscherter Felsklotz, und steiler, als wir ihn uns vorgestellt hatten. Bereits auf Höhe des Aconcagua beginnt der Landeanflug, und nun sind wir also in einem modernen, aber trotzdem etwas mickrigen Flughafen, Santiago.
Das Verfahren mit den roten und grünen Lämpchen ist zwar noch vorhanden, de facto wird aber fast alles Gepäck durchleuchtet, und man muß wohl nur in echten Verdachtsfällen alles auspacken.
Am Ausgang stürzen sich wieder Horden von Taxifahrern auf die Ankommenden, die wir wieder mal alle enttäuschen1. Der Wechselkurs des Peso ist erstaunlich stabil geblieben seit anderthalb Jahren: für einen US$ bekommt man immer noch $ 400(2).
Das Hotel brauchen wir uns diesmal nicht zu suchen, das Zimmer ist allerdings etwas schlechter als letztes Mal, dafür US$ 50 statt (damals) 45. Mit einer vorherigen Reservierung hätten wir das aber sicher auch optimieren können.
Am Nachmittag reservieren wir erst mal unsere Busfahrt in den Norden. Die Berge in der Gegend von Santiago sehen zwar nicht so schlecht zum Bergsteigen aus (fast schneefrei bis 5500 m), aber die Gefahr eines Wintereinbruchs ist jetzt Anfang Mai ziemlich groß. Und um einen wirklich hohen Berg "mal schnell" zu machen, fehlt uns noch die Akklimatisation. Wettermäßig dürfte der Norden wesentlich sicherer sein.
Als wir nach der üblichen Suche vor dem Busbahnhof Nord stehen, finden wir ihn äußerst verlassen vor. Die Busse nach Norden fahren jetzt von einem neuen Busbahnhof an der Estación Central (Hauptbahnhof) ab. Bevor man an die Fahrkartenschalter gelangt, muß man sich erst mal durch das davorliegende Konsumparadies mit zahllosen kleinen Läden, Boutiquen und Ständen kämpfen. Im Vergleich zu anderen Ländern (siehe später) ist das allerdings sehr ordentlich und organisiert. Die Busfahrt nach Calama kostet im Normalpreis etwa $ 20000, aber es gibt ein Sonderangebot für $ 12000.

1Der Bus in die Stadt kostet $ 640. Das sind die blauen "Centropuerto"-Busse, die bis (und von) der Av. B. O'Higgins / Metrostation Los Héroes fahren. Fahrplan etwa halbstündlich; Tickets im Flughafen kaufen.
2Kurs also: 1000 Pesos für DM 4.-

Montag, 6. Mai 1996

Santiago
Nach dem Instant-Frühstück (Pulverkaffee, Muffin, Toast, Marmeladen- und Butterpäckchen) gehen wir Landkarten kaufen. Die Museen sind montags geschlossen, man kann nur ein bißchen durch die Stadt schlendern, was zumindest ab Mittag ganz angenehm ist. Morgens ist es dagegen etwas kühl. Angebot und Preise im Supermarkt haben sich seit 1994 nicht wesentlich geändert. Neben Instant-Joghurt gibt es übrigens auch Instant-Sahne. Man muß allerdings Milch dazugeben. Aber die kann man im Notfall sicher auch mit Milchpulver machen.
Am Busbahnhof sind wir natürlich viel zu früh, so daß wir dort noch essen gehen können. Es gibt (als Sonderangebot) 1/4 pollo mit papas fritas und bebida, bzw. Hamburguesa mit denselben Beilagen, und dazu noch eine richtige bebida (cerveza grande)3. Das alles für etwa 11 Mark.
Der Bus fährt wie gewohnt sehr pünktlich um 15.30 ab. Allerdings sammelt er noch einige Reisende von anderen Busterminals auf. Nach unzähligen kleinen Stops, um irgendwelche Verkäufer für Gebäck, Eis oder sonstwas an Bord zu nehmen bzw. wieder auszuladen, kommen wir nach La Serena (500 km von Santiago), und da warten wir an verschiedenen Orten zusammen eine Stunde lang. Die letzte Warterei an der Tankstelle war wohl das Einladen des Abendessens. Selbiges ist, als es gereicht wird, natürlich schon kalt. Das Menü ist unerwartet vielfältig: einige bekommen Pollo mit zerkochten Nudeln, andere Pollo mit Reis. Jetzt ist es schon zwölf, es folgt eine mäßig erholsame Nachtruhe bis gegen sieben Uhr. Um diese Zeit sind wir in Chañaral, trotz der 12000 Einwohner ein Dorf an der Pazifikküste irgendwo im Nirgendwo.

3Das chilenische Standardessen: Hühnchen mit Pommes und ein Getränk, bzw. Hamburger. Glücklicherweise gibt es auch fast überall Bier..

Dienstag, 7. Mai 1996

(Santiago -) Antofagasta - Calama
Die Sonne will nicht so recht aufgehen, Hochnebel liegt über der Wüste. Auf der Strecke von der Abzweigung Taltal bis Antofagasta sieht man auf 300 Kilometern keinerlei Vegetation. Das dürfte eine der wüstesten Wüstenstrecken der Welt sein; oft sieht man nicht mal Anzeichen von Wassererosion, es hat also schon lange nicht mehr nennenswert geregnet.
Gegen elf Uhr sind wir in Antofagasta, und nach weiteren 200 km in Calama kurz nach zwei. Bis jetzt ist alles nicht allzu interessant: dasselbe Hotel in Santiago, dieselbe Busfahrt, und dieselbe Residencial in Calama. Für morgen mieten wir ein Auto für eine Woche, und diesmal denken wir auch an Dinge wie Reservekanister. Mit 110 Litern Benzin sollten unsere Vorhaben schon funktionieren.
Der Einkauf von Proviant gestaltet sich zur Großaktion. Wenn man es aber auf sieben Tage verteilt, dann sieht es gar nicht mehr so üppig aus. Besonders wenn man bedenkt, daß es kaum irgendwo Trinkwasser oder Schnee geben dürfte.
Abendessen: Pollo con papas, Salchipapas (Pommes mit Würstchen), Cerveza (was auch sonst). Ab morgen muß ich ja vom mitgenommenen Bier leben.

Mittwoch, 8. Mai 1996

Calama - San Pedro - Cerro Pajonal
Morgens um halb zehn holen wir unser Auto ab und fahren nach San Pedro de Atacama - wohl eine der beeindruckendsten Straßen Chiles. Sie ist übrigens teilweise neu geteert worden. Da sie auch fast schnurgerade ist, kann man meist 120 fahren. Wo ein "Kurve"-Schild ist, sollte man auf 80-100 abbremsen; manchmal scheinen die Schilder aber auch nur da zu sein, um für etwas Abwechslung zu sorgen. Man muß sich erst an die unglaublich klare Luft und gute Fernsicht gewöhnen, um ein gewisses Maß für die Entfernungen zu bekommen. Hundert Kilometer weit sieht man meist ohne Probleme.
Nach hundert Kilometern fast ohne jede Vegetation erreichen wir die Oase San Pedro und fahren gleich weiter die Schotterstraße in Richtung Tatio-Geysire. Da wollen wir allerdings diesmal nicht hin, wir biegen nach 52 km rechts ab auf eine Piste, die uns an den "auserwählten" Akklimatisationsberg führt: den Cerro de Pajonal, 4930 m. Das ist in Wirklichkeit ein wenig auffälliger Grasbuckel. Abseits der Piste kann man noch ein bißchen näher ranfahren; auf 4510 m stellen wir das Auto ab und begeben uns auf unsere kleine Wanderung. Schön vorsichtig, denn auf den ersten hundert Metern auf der ungewohnten Höhe wird es einem schön schwummrig. Bald weiß man, wie schnell man gehen kann, ohne Kopfschmerzen herauszufordern. Nach 1 1/4 Stunden sind wir oben und gucken nach Bolivien herüber. Da sieht es - wie natürlich nicht anders zu erwarten ist - genauso aus wie hier. Jetzt schnell zum Auto herunter (ehe das Kopfweh sich wieder meldet), und einen Schlafplatz gesucht. Zwei Kilometer entfernt finden wir den fast idealen Zeltplatz: alte Hütten, das Dach fehlt, aber die Mauern sind hoch genug, um ausreichend Windschutz zu bieten. Sonst ist es hier wieder unangenehm windig, und abends wird es sehr schnell kalt.
Wir übernachten auf 4470 m. Mal sehen, wie uns das bekommt. Zum Abendessen gibt es chloriertes Kartoffelpüree (das Wasser, das wir in der Residencial am Wasserhahn abgefüllt hatten, ist wohl doch nicht so geeignet).


Puna

Donnerstag, 9. Mai 1996

Cerro Colorado
Die Nacht hätte schlimmer sein können: Die Kopfschmerzen waren manchmal fast weg, und auch der Pulsschlag ist bis zum Morgen auf ein zählbares Maß heruntergekommen (80). Sicher auch Dank eiserner Disziplin bei der Flüssigkeitszufuhr. Da man dann auch öfters nachts raus muß, hat man vorzüglich Gelegenheit, den fantastischen Sternenhimmel zu bewundern. Man sieht vor lauter Sternen gar keine Sternbilder mehr.
Heute morgen kommen wir erst etwas zögernd los, die Sonne geht erst um halb acht auf. Und vorher ist es noch recht frisch (-5°$). Wir fahren mit dem Auto die Straße am Cerro Colorado bis auf Montblanc-Höhe. Wie alle Berge hier, ist auch dieser eher ein Schrotthaufen, auch wenn er von ferne besehen eine sehr schöne Form hat. Meist mittelgroßes Vulkangestein liegt lose aufeinander und wartet nur auf ahnungslose europäische Bergsteiger. Aber so ahnungslos sind wir schließlich nicht, wir wissen also, welche alpinistischen Genüsse wir uns (freiwillig) vorgenommen haben. Immerhin erreichen wir nach 4 1/2 Stunden den 5748 m hohen Gipfel des Cerro Colorado, und das noch fast ohne Akklimatisation. Die Höhenanpassung machen wir diesmal im Hau-Ruck-Verfahren, wir möchten ja noch größere Berge angehen. Im Pamir oder Himalaya wäre das etwas gefährlich, aber hier kommt man im Fall des Falles mit dem Auto in einer Stunde wieder auf 2500 m herunter.
Ich schrieb "Gipfel" des Cerro Colorado: Er hat natürlich deren drei praktisch gleich hohe Schutterhebungen, die einen ehemaligen Krater umringen. Sein Dasein als Vulkan hat er wohl schon vor längerer Zeit aufgegeben, die Kraterumrandung ist nur noch zu drei Vierteln vorhanden.
Nachdem wir die Aussicht genossen, uns ausgeruht und ein kleines Aspirin eingeworfen haben, machen wir uns auf den nicht minder erfreulichen Abstieg, Die meisten Schutthänge bleiben netterweise ungefähr da, wo sie waren, so daß wir nach anderthalb Stunden fast unbeschadet wieder am Auto ankommen.
Bei der folgenden Erkundung stellen wir fest, daß die Straße bis 5250 m befahrbar ist, danach blockiert ein Felssturz die Fahrspur. Das ist aber auch so schon kräftig hoch. Der ursprüngliche Zweck der Straße war der Schwefelabbau am Vulkan Apogado.
Übernachtet wird wieder am selben Ort wie letzte Nacht, das scheint der einzige wirklich windstille Platz zu sein.

Freitag, 10. Mai 1996

Cerro Sairécabur
Heute gibt es schon am Morgen ziemlich viele Cirruswolken. Eigentlich wären wir gerne auf den gelb-grünen Berg gegenüber vom Cerro Colorado gegangen (der ist offensichtlich noch aktiv und stößt Schwefel aus), aber die Straßen dorthin sind kaum mehr zu sehen, und zum Laufen ist es ein bißchen weit. Zwar "nur" 10 km, aber in dieser Höhe und bei dem Gelände...
Glücklicherweise gibt's hier noch mehr Berge. Wir fahren ein leicht abenteuerliches Sträßchen, das wohl schon länger nicht mehr von Felstrümmern gereinigt wurde, zum Portezuelo de Sairécabur hoch bis 5200 m. Die Straße geht noch weiter, aber ein paar Höhenmeter sollten es heute vielleicht schon sein. Wir folgen der Straße zu Fuß bis zum Paß. Dort liegt ein aufgelassenes Schwefelbergwerk, das den Nachbarvulkan schon kräftig und weithin sichtbar angenagt hat. Ab hier sind es nur noch 700 Höhenmeter. Aber was für ein Gelände! Blockzeug in allen erdenklichen Größen macht den Aufstieg zum mühsamen Gleichgewichts-Spielchen. Am Ende des Grates kommt ein markanter Felsaufschwung, der ohne Seil dann doch nicht so toll ist - außerdem liegt viel Geröll drauf. Aber man kann ihn rechts umgehen, und da stehen wir schon dem Gipfel gegenüber. Auch der Sairécabur hat einen flachen Allerwelts-Vulkangipfel. Aber er ist der höchste in der Umgebung (5971 m). Das Geröll ist wesentlich gröber als anderswo, am Gipfel und unterhalb liegen überall manns- bis hausgroße Lavaklötzer bunt durcheinandergewürfelt herum. Da macht das Vorwärtskommen Spaß!
Auf dem Gipfel finden sich einige uralte Holzstücke, die wohl schon von den Inkas hochgeschleppt wurden. Es ist recht windig, wir gehen bald wieder herunter. Zwei Stunden Eiertanz im Geröll, und wir sind wieder am Auto - sechseinhalb Stunden insgesamt. Das ist gut an die Tageslänge angepaßt: Die Sonne kommt morgens um halb acht, um neun kommt man gut los, und um halb fünf abends sollte man am Übernachtungsplatz sein. Mit dem fast schlagartigen Sonnenuntergang um sechs wird es gleich unangenehm kalt.
Heute übernachten wir in den Mauern eines aufgelassenen Gebäudes in der Azufreira (Schwefelaufbereitungsanlage) Saciel auf 4400 m. Abends fällt Claudia ein, ein paar unserer Dollar-Verstecke im Gepäck nachzusehen. Was für eine Überraschung: Das Gelumpe ist wasserlöslich, einige sehen recht mitgenommen aus. Wäre mit einer vernünftigen Währung nicht passiert.

Samstag, 11. Mai 1996

San Pedro - Socompa
Heute wollen wir uns unserem ersten größeren Ziel zuwenden, dem Volcán Llullaillaco (6739 m). Der hat es uns unter anderem der vielen "L"s wegen angetan, und weil man ihn am besten nach mindestens drei Cervezas aussprechen kann. Erst mal fahren wir von unserem doch recht hochgelegenen Übernachtungsort nach San Pedro herunter mit einer Pause an den Baños de Puritama. Das sind in einer Schlucht versteckte, wunderbar warme Quellen. In San Pedro kaufen wir noch ein bißchen zu Essen und zu Trinken ein, und auch das Auto bekommt nochmal randvoll zu Trinken. Jenseits von San Pedro gibt es keine Tankstelle mehr, und der fröhliche Gang mit dem Kanister durch die Wüste dürfte nur in der Werbung fröhlich sein. Unsere "Expedition" ist schließlich auf etwa fünf Tage ausgelegt.
Ordnungsgemäß melden wir uns am Ortsausgang von San Pedro bei Polizei und Zoll, aber keiner will was von uns wissen, weil wir die Grenze nicht überqueren wollen. Dreißig Kilometer weiter folgt Toconao, der letzte größere Ort (500 Einwohner). Im allgemeinen wird geraten, daß man sich hier mit seinem Reiseziel abmeldet, damit man Verschollene irgendwann mal wiederfindet. Der Carabinero erklärt uns die beste Route und bittet uns, uns bei den Carabineros am Socompa-Paß wieder zu melden. Es folgen weitere 55 km Wüste bis zur Ortschaft Peine; 30 km dahinter finden wir beim besten Willen die direkte Straße (besser gesagt: Piste) nicht und fahren lieber den sichereren, aber längeren Weg. Zurück nach Peine, und quer über den Salar (Salzsee). Das Salz ist meist sehr rauh, halbmeterhohes scharfkantiges Zeug; manchmal gibt es dazwischen ganz flache hellweiße Flächen. Die sind dann ganz reines salziges Salz, aber unter der Schicht liegt Salzwasser - man kann mit dem Fuß schon mal durchbrechen und einen halben Meter tiefer in der Brühe landen. Dasselbe gilt auch für die Straße: Von Zeit zu Zeit sieht man Schilder "Peligro - Zona Hundimiento". Das besagt dann, daß der Unterbau nicht der beste ist und Schlaglöcher schon mal durch die harte Schicht bis auf die Soße herunterreichen können. Ansonsten ist die Straße quer durch den Salar ein Traum: Tempo 120 einstellen, Autopilot auf geradeaus, und die nächsten zwanzig Kilometer gibt es nur kleinere Richtungskorrekturen. Gebaut wird sowas übrigens sehr einfach: Die richtige Mischung Sand und Salz, mit dem Bulldozer plattmachen, Wasser drüber und ein paar Tage warten - ist besser als so manche Teerstraße.

Auf dem Weg nach Socompa
Auf dem Weg nach Socompa, zweihundert Kilometer Salz und Wüste

Mitten im Salar liegt übrigens das Werksgelände der Sociedad Chilena del Litio, die einen bedeutenden Teil der Lithium-Weltproduktion erwirtschaftet. Danach geht es wieder gerade, links ab (großes Ereignis: eine Kreuzung), und weiter nochmals fünfzig Kilometer durch ein Hochtal mit oben erwähntem Tempo. Hier das zweite große Ereignis: wir überholen einen Lastwagen. Das einzige Auto seit Toconao. Bald sind wir in der Gegend, wo die Bahnlinie 4 von Antofagasta zum Socompa-Paß hochkommt. Sie wird unter anderem von der Litio benutzt, die bis dort mit Lkw anfährt. Deshalb ist die Straße auch so gut. Damit hat sich's jetzt auch: Waschbrettpiste, und wenn man unter 80 fährt, schüttelt es einem das Frühstück hoch. Wir fahren immer noch durch Wüste; die Gegend wirkt ungewohnt, weil ausgeprägte Täler völlig fehlen. Es geht von Mulde zu Mulde, weiter oben wächst dann ein bißchen Pampagras. Kurz nach einer einsamen Militärstation und der Abzweigung zum Ort Negrillar (wohl ein Bergwerk) wird die Straße zum Albtraum: Als wäre der Bulldozerfahrer beim Bau sternhagelvoll gewesen, schlängelt sie sich Schlagloch an Schlagloch zwanzig quälende Kilometer bis zum Socompa-Paß (3876 m), Grenzstation nach Argentinien. Sieht etwa so aus, wie man sich das Ende der Welt vorstellt: eine windige Bahnstation mit einem alten Güterzug, einer chilenischen und einer argentinischen Militärstation, jede mit einem bescheidenen Fähnchen. Das Ganze könnte genausogut eine Westernkulisse sein.
Die Carabineros, bei denen wir uns melden, müssen uns leider mitteilen, daß man für alle Berge im Grenzgebiet eine Genehmigung braucht, die wir z.B. beim Konsulat in Antofagasta hätten bekommen können5. Das hätte uns der Pfeifendeckel in Toconao ja auch ruhig sagen können. Leider muß man die Genehmigung persönlich beantragen, und die Carabineros können uns, so leid es ihnen auch tut, nicht weiterhelfen. Mittlerweile haben wir in der Station schon für einen mittleren Volksaufstand gesorgt: Fünf Carabineros stehen herum und gucken neugierig unsere Pässe an. Uns bleibt nichts übrig, als unsere Vulkan-Besteigungspläne erst mal zu begraben und zurückzufahren. Natürlich werden wir in der Gegend erst mal übernachten, es ist schon halb fünf. Die Carabineros hätten uns gerne mit Wasser, Essen und Kopfschmerztabletten versorgt (interessant auch diese Reihenfolge!), aber wir brauchen nichts davon.
Der erste Kilometer zurück ist ein wahrer Höllentrip: Vier Straßenköter rennen ums Auto herum, oft auch davor, und man möchte ja keinen ins Jenseits befördern. Aber auf Hupen reagieren sie überhaupt nicht. Zum Übernachten finden wir wieder mal ein Windschutzmäuerchen und nisten uns dort ein. Hier ist es abends deutlich wärmer als die letzten Tage, es liegt ja auch nur 3600 m hoch.

4nur Güterverkehr. In Chile gibt es nur vier Bahnlinien mit Personenverkehr.
5In Arica stellt sich später heraus, daß das eine völlige Fehlinformation war; aber die Anregung mit dem Konsulat war trotzdem gut.

Sonntag, 12. Mai 1996

Socompa - Ruta 23
Der erste Teil der Rückfahrt geht mit etwa 20 km/h vonstatten. Jeder Beschleunigungsversuch wird zum Schütteltest, es sei denn, man kommt mal kurz über die kritischen 60. Hier liegen die Schlaglöcher aber viel zu dicht. Durch mehrere große Mulden geht es zurück, mehr oder weniger der Bahnlinie folgend. Leicht beunruhigend ist die Stelle, wo das Gebiet rechts und links der Straße abgezäunt ist mit dem Hinweis "Peligro - Minas". Reste eines zerrissenen Autowracks unterstreichen diese Warnung. Auch die Gegend um den Llullaillaco soll teilweise vermint sein; noch ein Argument dafür, die Besteigung nicht ohne Genehmigung und Rat der Carabineros zu machen.
Bald erreichen wir die Abzweigung nach Norden und damit unsere "Autobahn" wieder. Enorm starker Verkehr heute: Auf hundert Kilometern begegnen uns zwei blaue, drei gelbe Lastwagen, ein Bus und ein Pkw. Und das am Sonntag.
Wir verlassen kurz vor Toconao die Ebene des Salars auf der "Straße" zum Huaitiquina-Pass. Die war zwar schon 1994 nicht die beste, aber jetzt ist sie eine einzige Anhäufung von Wellblechpiste, Schlaglöchern und Steinen. Unser Ziel für morgen ist der Vulkan Láscar, der momentan für die einzige Wolke am Himmel verantwortlich ist. (Er war 1988 nach langer Ruhe plötzlich ausgebrochen und ist seitdem ständig aktiv.)
Der Übernachtungsplatz unterscheidet sich wenig von den Vorangegangenen: Wir finden ein Mäuerchen, in das das Zelt gerade so hineinpaßt. Höhe 3840 m, also 1500 m über dem Salar, es ist noch ziemlich wüst hier. Heute sind wir ausnahmsweise früh dran und machen noch ein Stündchen Urlaub in der Sonne. Der feine Sand ist beim Herumlaufen manchmal etwas tückisch, denn darunter ist poröses Lavagestein ("Hundimientos", etwa fußtief).

Montag, 13. Mai 1996

Volcán Láscar
Da wir die Piste an den Fuß des Láscar trotz Allradantrieb nicht hochkommen, gehen wir an unserem Übernachtungsplatz los. Endloses Gewatschel durch die Puna, bis wir nach 2 3/4 Stunden endlich an den Berg kommen. Am Anfang des Weges übrigens Ñandu-Spuren5. Große Vögel gibt's nicht nur in Australien.
Wie schon in der Ebene, gibt es auch am Hang fast nur feinen Sand. Man kann an ein paar Felsaufschwüngen auch festeres Gestein oder gröberes Geröll finden und dadurch den Aufstieg andeutungsweise möglich machen. Dafür, daß der Láscar nach Karte nur 5145 m hoch ist, zieht es sich enorm. Als der Höhenmesser schon 5100 m zeigt, wird langsam klar, wo der Fehler liegt. Die Höhenlinien sind in der Karte zwar richtig eingezeichnet, beim Beschriften hat man sich aber verzählt und den Gipfel um 500 m zu niedrig angegeben. Tatsächlich sind es also 1800 Höhenmeter, und das ist auf der Höhe ein bißchen viel. Also genügt der westliche Vorgipfel (5500 m), auch schon mit großer Mühe. Der Hauptkrater ist fast völlig mit Geröll aufgefüllt; die momentane Aktivität (seit 1988) findet in einem neueren Krater auf der Ostseite statt. Nur schade, daß man den von hier aus nicht sehen kann. Aber herüberzugehen wäre sooo weit, und es ist schon drei Uhr. So wird leider nichts aus dem Vulkan-Zugucken. Dafür haben wir einige Höhenmeter mehr als geplant geschafft, das dürfte mittelfristig der Kondition dienen. Runter geht es dafür durch den Sand recht fix.

5Ñandus sind südamerikanische Strauße (die gibt's!)

Dienstag, 14. Mai 1996

Ruta 23 - Laguna Lejía - Baños de Puritama
Allgemeine Faulheit siegt über die sowieso schon recht geringe Motivation, irgendeinen Buckel heraufzurennen, bloß weil er vielleicht 5600 m hoch ist. Viele lohnende Ziele sind hier nicht mehr zu finden: Namen- und bedeutungslose Huckel von 5600 m, und der einzige Sechstausender der Gegend (Cerro de Pili6) liegt zu weit von der Straße weg. Auf den schönen Vulkan Miñiques (5910 m) sind es zuviele Höhenmeter, und eine Zweitagestour kommt bei dem Wassermangel hier nicht in Frage. Außerdem ist das Bier alle.
Also lautet das Programm für heute: Urlaub und Sightseeing. Das erste Wunder geschieht schon beim "Ausparken" aus der Sanddüne, in der ich vorgestern das Auto deponiert habe: Gerade als ich auf die Straße7 zurücksetze, kommt ein Militärlastwagen vorbei. Das erste Auto seit drei Tagen - und wäre es zehn Sekunden eher gekommen, wäre ich glatt reingefahren.
Wir fahren in Richtung Huaitiquina-Paß durch ebene Puna und ein kleines Tal. Plötzlich ist die Vegetation ganz verschwunden, und nach einer kleinen Hochebene, vielleicht 5 km lang, sehen wir die Laguna Lejía auf 4300 m. Im November soll es hier Flamingos geben, aber das müssen ganz besonders abgehärtete Exemplare sein. Obwohl sich am Rand große Salz- und Sedimentablagerungen gebildet haben - der Salzgehalt sicher entsprechend hoch ist - und trotz des kräftigen Windes ist der Rand zugefroren. Hinter dem See zeigt sich ein Panorama, wie man sich die Welt vor vielleicht einer Milliarde Jahren vorstellen muß: Unablässig gibt der Láscar große, wahrscheinlich giftige Gaswolken ab, die sich über die Ebene vor zwei steil aufragenden Vulkankegeln ausbreiten. Auf der Ebene um den See herum tragen unzählige herumliegende Tiergerippe zum einzigartigen Flair dieser Gegend bei. Schwierigkeiten beim Wenden werden mit Hilfe der Lawinenschaufel behoben. Der Sand neben der Straße war doch nicht so tragfähig, wie er ausgesehen hatte.

Laguna Lejia
Laguna Lejía

Alles was am weiteren Verlauf dieser Straße liegt, dürfte dank Láscars atmosphärischer Gaben alpinistisch nicht in Betracht kommen. Nach diesem Ausflug in die Vorzeit fahren wir wieder nach San Pedro zurück. Hier informieren wir uns bei einem Trekkingunternehmen über die Möglichkeit, an den Llullaillaco zu gehen. Ergebnis: etwas abseits des Standardprogramms, aber im Prinzip kein Problem. Die billigste Variante wäre einfach nur der Transport zum und vom Basislager für $ 140000. Der Knackpunkt daran ist aber, daß die Dame über Genehmigungen leider nichts weiß, aber es gäbe da sowieso nie Schwierigkeiten. Das muß man wohl so interpretieren, daß zumindest dieses Unternehmen vor den Carabineros abzweigt, und wenn irgendwas passieren würde, wäre der Ärger groß. Besonders weil wir ja wissen, daß man eine Genehmigung braucht und wir ja auch den Carabineros nun bekannt sind.
Nächste Idee: Wir könnten ja wieder den Ojos del Salado (800 km weiter im Süden) angehen. Im Oktober 1994 waren wir dort an Kälte und Höhensturm gescheitert. Ein Anruf bei Sernatur (Servicio Nacional de Turismo) in Copiapó sagt alles: Das wäre schon möglich, es läge noch kein Schnee. Ziemlich kalt wäre es (-28°), sehr windig, und bald käme der Winter, es könne also von einer Sekunde auf die andere zu schneien beginnen. September/Oktober sei da eine bessere Zeit.
Es soll also nicht sein. Bewegen wir uns also demnächst lieber weiter nach Norden, anstatt uns auf den hohen Bergen im Süden vom Winter überraschen zu lassen.
Am Nachmittag fahren wir zu den Baños de Puritama, um uns in den warmen Quellen richtig vom Wüstensand zu reinigen.

6 6046 m hoch, aber es würde sicher kein Mensch merken, wenn er plötzlich nicht mehr da stünde. Wäre daher unser bevorzugtes "Mitbringsel", um es zuhause aufzustellen. Wenn da nur das Übergepäck nicht so teuer wäre...
7Der Begriff "Straße" ist benutzt wie sonst auch im Text und hat i.a. nichts mit einer ebenen Teerfläche zu tun.

Lupinien vor dem Vulkan Lascar
Lupinien an einer steingedeckten Wasserleitung am Vulkan Láscar, Atacama.

Mittwoch, 15. Mai 1996

Baños de Puritama - Calama
Morgens muß zuerst die Isomatte abgedichtet werden. Aus Platzgründen haben wir diesmal die aufblasbare Therm-a-rest dabei (neu gekauft!), und sie hat immerhin sieben Tage lang gehalten. Glücklicherweise kann man das Leck im großen warmen Wasserbecken bald finden und beheben.
Als wir aus unserem Talkessel herauskommen, präsentiert sich der Himmel an den Bergen stark bewölkt. Ab 4200 m hat es geschneit. Gut, daß wir heute nichts vorhaben; alles wäre matschig. So geben wir das Auto in Calama wieder ab und kaufen Busfahrkarten nach Arica für heute abend. Die Zeit bis dahin vertreiben wir uns, indem wir gepflegt Essen gehen: Pizza, Salat und Getränke für $ 6500. - eine gute Abwechslung, da ich langsam eine Pollo-Allergie entwickle. Mir wird ja schon das Buch "Apollo 13" langsam suspekt.
Der Bus8 verläßt Calama relativ pünktlich um 21.30. Allerdings erst mal nach Chuquicamata. Danach geht es auf einer Schotterstraße irgendwo durch die Wüste. Wie alle anderen, ist auch dieser Bus auf das Schlafen während der Reise ausgelegt: Zwar läuft abends noch ein ziemlicher Schrott-Video (Ninja soundsoviel), aber die Pässe für irgendeine Kontrollstelle werden am Abend eingesammelt und morgens wieder zurückgegeben, damit die Fahrgäste nicht mitten in der Nacht die Papiere herauskramen müssen.

8 Gesellschaft: Geminis; Pullman fährt nicht von Calama nach Arica

Donnerstag, 16. Mai 1996

Arica
Frühstück gibt es kurz vor Arica. In diesem Fall hält der Bus sogar eine Weile an. Das vermeidet zumindest größere Kaffeeverschüttungen, und ob wir um sieben oder acht Uhr ankommen, ist letztendlich egal. Es hat sowieso noch nichts offen. Zu Chiles Ehrenrettung muß man dazu anmerken, daß es auch in Deutschland nicht anders wäre. Arica macht um diese Zeit einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Für eine Stadt von 163000 Einwohnern9 ist das Zentrum ganz schön klein, und es geht schlagartig in verdreckte Viertel über. Von denen gibt es eher viele, wie wohl für eine wichtige Hafenstadt normal. Wir möchten nun unser Weiterkommen organisieren. Geplant ist eine Besteigung der Vulkane Parinacota (6342 m) und Pomerape (6282 m) vom Lago Chungará aus (4500 m), also eine mehrtägige Unternehmung im Lauca-Nationalpark. Zuerst gehen wir zum Büro der CONAF (Corporación Nacional Forestal, das ist die Nationalparkverwaltung), aber das scheint nicht zu existieren. Nächster Anlaufpunkt ist Sernatur. Dort sagt man uns, wir bräuchten eine Autorización (natürlich, die Berge liegen an der Grenze zu Bolivien), und die bekämen wir von der Provinzregierung in Putre, alles kein Problem. Putre liegt etwa auf halbem Weg zwischen Arica und dem Lago Chungará. Für uns gibt es nun eine erste Vorstellung vom Ablauf der Aktion. Am besten wäre es, mit dem Bus in den Nationalpark zu kommen (mit Stop in Putre für die Bewilligung), und nach der Besteigung den Bus nach Bolivien am Lago Chungará abzupassen. Wie kommt man also in den Park? Normale Busse gibt es nur bis Putre, dahinter fahren nur die eintägigen Touristenexkursionen. Ausgerechnet die aber fahren Putre selbst nicht an. Ein Mietwagen wäre etwas teuer und stünde ja zwei oder drei Tage nur herum. Bei einem der Reiseunternehmen sagt man uns, daß Sernatur von solchen Sachen sowieso keine Ahnung hätte und das Permit 48 Stunden dauere.
In dieser unserer Not erinnern wir uns, daß wir am Morgen ein Schild mit Bundesgeier drauf gesehen haben und suchen den deutschen Honorarkonsul in Arica10 auf. Die Carabineros in Socompa hatten schließlich erwähnt, das Permit könne man beim Konsulat bekommen. Der Konsul ist ein freundlicher älterer Herr, der natürlich von derartigen Problemen noch nie gehört hat. Zumindest führen wir ein nettes Gespräch mit ihm über Sinnfragen des Bergsteigens - er kommt offensichtlich aus Norddeutschland. Aber er nennt uns einen Herrn Krause, der zwei Häuser weiter beim Reisebüro ist, und der habe in Putre ein Hotel und sei da sozusagen der "Hans Dampf in allen Gassen", und der könnte uns vielleicht weiterhelfen.
Herr Krause - eine eindrucksvolle Persönlichkeit, da etwa 1.90 m groß11 - setzt ein Schreiben an die Provinzregierung auf, das er vom Reisebüro aus nach Putre faxen läßt. Er stammt übrigens aus Kiel, wohnt seit seinem 6. Lebensjahr in Chile und besitzt das Hotel in Putre. Dieses Hotel war gebaut worden, als eine Silber- und Goldmine dort in Betrieb war, und hat jetzt nach deren Schließung ein Auslastungsproblem. Als Deutsche bekommen wir einen Freundschaftsrabatt von 70%, was auch diese Unterkunft für uns in den Bereich des Möglichen rückt.
So scheint dann durch den Besuch bei dem älteren Herrn eine vernünftige Lösung in Sicht. Wenn wir Glück haben, funktioniert das mit dem Fax, dann könnten wir morgen eine Genehmigung haben. Wenn nicht, müssen wir uns um Putre herum die Zeit vertreiben.
Am Nachmittag strecken wir kurz die Füße in den Pazifik; er ist allerdings eher frisch (so an die 17°). Weitere Sehenswürdigkeiten gibt es kaum, neben dem unübersehbaren Morro, dem Festungsfelsen, der 1880 im Salpeterkrieg von Chile (von Norden her) eingenommen wurde12. Wie in allen chilenischen Städten werden die Straßen am Nachmittag bzw. Abend belebt. Die Geschäfte haben meist bis 20 oder 21 Uhr offen, dafür aber Siesta bis halb vier oder sogar halb fünf.
Heute mal was Neues: Statt all der Leute, die Bonbons oder Tonbandkassetten verkaufen, läuft einer durch die Kneipen und verkauft Eisensägen.

9Die Stadt Arica hat 163000, die Provinz Arica 170000 Einwohner.
10Calle 21 de Mayo, etwa Nr. 650.
11Man vergleiche mit der chilenischen Durchschnittsgröße. Wir fallen ja schon auf.
12Seitdem reicht Chile bis 10 km nördlich von Arica, und Bolivien hat keinen Zugang zum Meer mehr.

Freitag, 17. Mai 1996

Arica - Putre
Morgens bei der Busgesellschaft sind wir anscheinend die einzigen Fahrgäste; diverse Leute laden Unmengen verschiedener Pakete ein. Wer in Putre wohnt, scheint ein Care-Paket nötig zu haben. Die restlichen Passagiere (wohl alle Stammgäste) steigen weiter außerhalb ein, der Bus ist etwa halb voll.
Obwohl es am Meer liegt, steht Arica mitten in der Wüste. Um den Ort herum gibt es, von einigen bewässerten Tälern abgesehen, keine Vegetation. Morgens ist es noch neblig und trüb; es ist ein komisches Erlebnis, im Nebel durch die Wüste zu fahren. Über dem Nebel ist es natürlich wolkenlos. Die Straße ist geteert, aber sehr kurvig. Die Täler in dieser zerklüfteten Gegend scheinen nicht gangbar zu sein, so läuft die Straße am Hang entlang.
Nach vier Stunden kommen wir im Provinz-Hauptdorf Putre an. Der Ort liegt abseits der Hauptstraße auf 3500 m in einem Talkessel, alles ist grün und eifrig bewässert. Offensichtlich ist das hier das CONADI-Musterdorf13.
Die Verwaltung hat noch nichts unternommen, man möchte wissen, wann genau wir diese Unternehmung durchführen möchten. (Die Antwort ist natürlich denkbar einfach - so bald wie möglich.) Zu allem Überfluß ist nächsten Dienstag Feiertag, die Genehmigung aus Santiago kommt also entweder am Montag oder am Mittwoch. Zumindest bekommen wir am Nachmittag die Auskunft, daß sie am Montag spätestens um 18 Uhr vorliegen sollte. (Man hat endlich in Santiago die richtigen Leute telefonisch erreicht.)
Den schneebedeckten Cerro de Taapacá (5775 m), der direkt überm Ort steht, kann man ohne Genehmigung besteigen. Die Damen der Provinzverwaltung raten aber ab, da gäbe es Fumarolen und tiefe Löcher im Schnee, und überhaupt sei in der Puna alles ganz anders als in San Pedro de Atacama. Auch wenn wir schon auf 6000 m gewesen wären, seien ihre Berge hier viel schwieriger. Nachdem wir am Gipfelhang Skispuren(!) gesehen haben, sehen wir das ein bißchen anders.
Den Rest des Freitags schlagen wir tot, indem wir durch Putre promenieren. Anders als in den Städten ist die Bevölkerung hier (praktisch ausschließlich Indios) auffällig freundlich, wir werden von jedem gegrüßt (und erwidern die Freundlichkeit natürlich gerne). Touristen sind wohl doch eher die Ausnahme hier.
Später schauen wir uns die zwei Llamas an, die vor dem Hotel14 herumstehen. Sehr begeistert sehen sie nicht aus, was ihnen auch nicht zu verübeln ist, denn sie sind angepflockt. Morgens dürfen sie dann allerdings im ganzen Vorgarten herumlaufen. Das eine maunzt immer herum, weil es seinen Aktionsradius schon abgegrast hat. Den restlichen Abend traben ständig Kuh- und Schafherden auf dem Weg vor unserem Fenster rauf und runter. So viele Kühe kann doch der ganze Ort nicht haben!
Die Nacht wird ziemlich kalt, obwohl es ja ein Hotel ist - ohne Heizung wird es auf 3500 m recht frisch. Dafür ist es tagsüber angenehm bis etwas warm.

13Corporación Nacional del Desarrollo Indígena, für die Entwicklung der einheimischen Bevölkerung zuständige Behörde.
14Das Hotel heißt "Las Vicuñas". Da Vicuñas streng geschützt sind und demnach nicht als Haustiere gehalten werden können, hat man als Aushängeschild Llamas genommen.

Samstag, 18. Mai 1996

Putre - Lager am Cerro Taapacá
Die einzigen Gäste außer uns beim Frühstück sind ein Schweizer Paar. Sie haben einen Mietwagen, der u.a. mit drei Fässern Benzin ausgestattet ist, und wollen damit etwa eine Woche lang quer durch die Nationalparks im Altiplano fahren. Unser Glück: Da müssen sie erst hoch an unserem Berg vorbei, und natürlich nehmen sie uns gerne auf der Ladefläche mit bis auf 4000 m.
Von hier ab laufen wir durch die Puna; es ist immer noch einiges mehr an Strecke, als wir angenommen hatten. Mit der ganzen Ausrüstung für ein Hochlager brauchen wir 4 1/2 Stunden, bis wir auf 4740 m einen anständigen Lagerplatz finden. Diesmal müssen wir das Windschutzmäuerchen selber bauen.
Zum Abendessen gibt's Tee und eine Dose Thunfisch mit Brot. Heute und morgen müssen wir uns etwas sparsam ernähren, denn neben dem Essen mußten wir hier das ganze Wasser auch noch hochtragen. Bis auf ein paar Schneeflecken weiter weg gibt's hier nämlich gar nix.

Sonntag, 19. Mai 1996

Cerro Taapacá
Während der Nacht war es erstaunlich windig, ganz anders als bei San Pedro. Um halb sieben stehen wir auf, das Frühstück besteht aus Vanillekeksen, Marmelade und Tee. Viertel vor acht folgt der Aufbruch in die Kälte. Es ist zwar nicht gar so kalt (-10°), aber es weht ein beißender Wind aus Nordwesten. Die ersten 140 m Schuttfeld in einen kleinen Sattel gehen ja noch, aber da stellen wir fest, daß die Schneefelder nicht dort beginnen, sondern ein halbes Tal weiter hinten. Um nicht ewig weiter im Schutt queren zu müssen, gehen wir den Hang direkt auf den Hauptgrat hoch. Wie immer, sieht das auch gar nicht so weit aus.
Wie immer, täuschen wir uns. Und der Schutt in diesem Hang ist weltrekordverdächtig lose, ganz besonders die tennisballgroße Sorte gehört verboten. Am Grat wird es flach, 5140 m. Endlich Sonne, das heißt eine halbe Stunde lang eingefrorene Fußzehen massieren.
Bald erreichen wir den ersten Schnee, und mit Steigeisen geht es ausnahmsweise gut voran, soweit das die Höhe erlaubt. Oben ist der Grat durch einen großen gelben Turm gesperrt, der uns wieder nach rechts in den Schutt zwingt. Eine halbe Stunde später (13.00) ist der Gipfel des Cerro de Taapacá erreicht, der Höhenmesser zeigt 5575 m. Also zeigt das Ding schon seit Putre genau 200 m zu wenig an, die richtige Höhe ist 5775 m.
Es sieht hier oben nicht so aus, als hätte sich in den letzten Jahren irgendwas Vulkanisches abgespielt. Eine Vulkanform können wir uns am ehesten zusammenreimen, wenn das große Tal jenseits des Gipfels früher mal der Krater gewesen und zur Ostseite hin durchgebrochen wäre. Aber auf der Karte heißt es ja Cerro und nicht Volcán; so wissen wir jetzt, wie gut die Leute in Putre über ihre Berge Bescheid wissen.
Die Aussicht ist recht nett, man sieht hier und da einige Vulkankegel am Horizont. Beeindruckend sind die perfekten Formen von Parinacota, Pomerape und Sajama. Den Pazifik sehen wir leider nicht, weil es da unten zu dunstig ist.
Unter Zuhilfenahme einiger (feinschottriger, soweit möglich) Geröllfelder ist der Abstieg in 1 1/2 Stunden beendet. Sogar Nachschub für unser Trinkwasser finden wir unweit des Lagerplatzes, wenn auch in gefrorener Form. Flüssiges Wasser gibt es hier praktisch nie, es versickert immer gleich im porösen Lavagestein.
Zum Abendessen gibt es Tomatensuppe (das ist auch schon alles). Wir scheinen nicht allzu wohlernährt auszusehen momentan, wenn schon ein Kondor vorsichtshalber ein paar Kreise über unser Zelt dreht.

Montag, 20. Mai 1996

Putre - Caquena
Der erste Teil des Abstiegs ging einigermaßen schnell, erst über Schutt, dann durch ein Tal mit einem kleinen Bach. Danach haben wir aber den direkten Weg hinunter nach Putre nicht gefunden und haben eine größere Schleife an zwei Straßen entlang gemacht; insgesamt 10 km. Zurück in Putre, kurz nach zwölf, das große Wunder: Das Genehmigungs-Fax ist da. Wir müssen damit zu den Carabineros, die uns aber nur an die Carabineros in Caquena weiterverweisen. Das sei der nächstgelegene Ausgangspunkt für Parinacota und Pomerape.
Zum Mittagessen gibt es das Menü im Restaurant (damit wir wieder zu Kräften kommen): Cazuela, Pollo mit Reis und Tomate. Zum Nachtisch gibt's noch Weintrauben, die wir nicht verschmähen, obwohl wir uns damit gleich den ersten Durchfall einhandeln. Danach ein mittelgroßer Einkauf im "Supermercado"-Tante-Emma-Laden, Tante Emma zählt den Betrag bedächtig an den Fingern ab.
Jetzt müssen wir nur noch an unsere Berge kommen. Dummerweise liegt Putre in seinem Talkessel, von der Hauptstraße über eine Sackgasse erreichbar. Dummerweise will während der Stunde, die wir am Ortsende warten, auch überhaupt niemand raus aus Putre.
Zufällig steht ein Taxi an der Plaza. Das wird zwar kein billiges Vergnügen, ist aber immer noch günstiger als ein Mietwagen.
Als die Straße in den Nationalpark Lauca führt, stehen buchstäblich überall Vicuñas herum. Vor 25 Jahren fast ausgerottet, sind sie hauptsächlich hier wiederangesiedelt worden, offensichtlich mit großem Erfolg. Man sieht auch Llamas, die sich nicht gerne durch Autos vom Überschreiten der Straße abhalten lassen wollen. Nach etwa 35 km hält der Taxifahrer in einem winzigen Nest namens Chucuyo und geht erst ins Restaurant, wartet und klopft dann an allen Türen eines benachbarten Hinterhofes. Des Rätsels Lösung: Er hat in Putre (das auch keine Tankstelle hat) keinen Sprit mehr bekommen. Der Hinterhof-Herr, der nun endlich anrückt, verkauft ihn für $ 400 pro Liter - der normale Preis ist $ 250.
Ab der Ortschaft Parinacota ist die Straße nicht mehr geteert, und sie wird immer fragwürdiger. Mitleiderweckend klingt sein "Oh", wenn wieder mal ein Stein den Unterboden besprungen hat oder der ganze Mittelteil aufgesessen ist; von den Schlaglöchern ganz abgesehen. Zwischendurch wird der Wagen auch mal von der eigenen Radkappe überholt.
Kurz nach fünf erreichen wir Caquena; die Fahrt kostet $ 24000. Ein Carabinero kommt heraus, schaut etwas erstaunt ob des Taxis und stellt die entscheidende Frage: "In Caquena ? Was wollt Ihr denn hier? Verständlich, denn der Ort selbst ist praktisch verlassen, er besteht nun also nur noch aus der Carabineros-Station, einer Verwaltungsstelle und der Schule. Auf unsere Expeditionsgenehmigung hin wird er freundlicher und bittet uns in die Station herein. Es gibt Kaffee, und er stellt uns die üblichen Fragen. Momentan ist er alleine, er wartet auf die Kollegen, die den Tag über auf Patrouille sind. Es stellt sich heraus, daß wir es mit einem Bewunderer Deutschlands zu tun haben; als er klein war, hatte seine Mutter im Süden für Deutsche im Haushalt gearbeitet. Es sei die Art der Deutschen, die Dinge zu tun, die ihm gefällt. So unterhält man sich über die aktuelle wirtschaftliche und moralische Lage in Deutschland und so manches andere. Wir erfahren auch, daß man mit Frau und zwei Kindern in Chile mit $ 300000 monatlich so einigermaßen durchkommt. Und daß es hier besonders viele UFOs (spanisch OVNIs) geben soll.
Verkehrsmäßig ist Caquena ungefähr das Ende der Welt: es fährt etwa ein Fahrzeug pro Woche durch. Statistisch gesehen, können wir diese Woche also nicht allzuviel erwarten: unser Taxi war ja schon da.
Als die Kollegen da sind, geht es an die Registrierung (falls wir verlorengehen sollten). Der letzte Eintrag war eine Gruppe von 11 Italienern am 19. März. Damit wir nicht das Zelt aufschlagen müssen, sollen wir doch zur Schule gehen - die Straße bis ans Ende, und dann rechts beim Fahnenmast an die Türe klopfen. Tun wir. Der Lehrer macht auf und führt uns ins Nebenzimmer seines Büros (bzw. Küche, Eßzimmer etc.). Bevor wir uns auch nur wehren können, sind zwei Matratzen da. Kochen können wir auf dem Gaskocher, und die Baños sind nebenan, so zeigt er uns. Am Abend müssen wir tatsächlich nochmal die uns angebotene Hilfe der Carabineros in Anspruch nehmen und einen Viertelliter Benzin für unseren Kocher schnorren. Guten Eindruck bei unserem Freund macht dabei die Stirnlampe, obwohl ja keine deutsche Erfindung (das haben wir ihm allerdings nicht gesagt).
Der Lehrer hat acht Schüler, davon drei aus dem Ort, und der Rest kommt aus der Gegend hergewandert. Er arbeitet nebenher mit der Schreibmaschine an seiner Thesis (Promotion), und dazu hat er gut Zeit. Kein Telefon stört ihn, Licht kommt aus der Gaslampe, und manchmal (abends von halb sieben bis halb zehn) liefert der Generator der Verwaltung Strom. So ist er ganz zufrieden hier, der Staat ernährt ihn direkt in Naturalien, und er verdient dazu noch besser als in Arica. Was er sonst noch so erzählt: Es gibt eine Pflanze, die als Tee getrunken gegen Höhenprobleme hilft. Es gibt allerdings eine sehr ähnlich aussehende, die es nur schlimmer macht. Aber immerhin: Beide wachsen sozusagen am Ort des Geschehens.

Dienstag, 21. Mai 1996

Caquena - Lager am Parinacota

Pallachata-Vulkane von Caquena aus gesehen
Die Pallachata-Vulkane, von Caquena aus gesehen, mit hiesigen Wolleträgern im Vordergrund.

Um zehn vor neun verlassen wir Caquena (4240 m). Zuerst geht es der Straße entlang, und die beiden Hunde der Carabineros sind nicht loszuwerden. Sie sind noch recht jung und treiben einen ziemlichen Haufen Blödsinn. Insbesondere sorgen sie dafür, daß wir von keinem der Vögel hier\footnote{Im Lauca-Nationalpark leben die meisten Vogelarten Chiles, und die feuchte Ebene bei Caquena ist einer der wichtigsten Lebensräume für sie.} mehr als ein quakendes Aufflattern mitbekommen. Mit der Zeit machen uns die zwei immer mehr Sorgen, besonders als sie versuchen, eine kleine Maultierherde zu jagen und dabei viel Panik stiften. Um sie abzuhängen, gehen wir jetzt mitten durch die 2 km breite Sumpfwiese (bofedal), anstatt dem Weg weiter zu folgen, wo sie ständig voraustollen. Wir versuchen sie auch immer wieder mit Bombardements mit kleinen Steinen in die Flucht zu schlagen, aber erfolglos.
Am anderen Ende des bofedal grast eine Llamaherde. Da läuft das Ganze etwas anders: Die ganze Herde rennt geschlossen auf die bellenden Winzlinge zu, die wieder mal lärmend und selbstsicher die Attacke begonnen hatten. Der Schwarze scheint darauf in die Flucht geschlagen, aber der Braune bleibt uns (allerdings hinkend) treu. Nach der Ebene geht es ein Stück Puna herauf (ein paar Büschel hartes Gras und viel Sand dazwischen), aber oben am Hang stehen wie durch ein Wunder Bäume, oder es sind uralte große Büsche. Auf 4800 Metern. Hier scheint es wohl nicht so wüst zu sein wie in der Gegend um San Pedro. Dafür spricht ja auch, daß die Payachata-Vulkane nicht zu knapp vergletschert sind.

Bäume im Vulkansand (auf 4700 m!) auf dem Weg zum Parinacota
Bäume und Llareta-Hartpolsterpflanzen auf dem Weg zum Parinacota, auf 4700 m

Parinacota in Sicht, jetzt ist nur noch Sand im Weg!
Der Parinacota ist in Sicht, jetzt ist nur noch Sand im Weg...

Der Hang steigt langsam an, fast nur Sand. Vom Parinacota kommt wie ein Gletscher ein großes Feld schwarzen Sandes herunter, dem wir folgen, bis wir einen Absatz höher auf 5005 m einen netten Lagerplatz finden. 6 1/2 Stunden sind auch genug, besonders bei der langen Strecke am bofedal entlang.
Als der Sand ordentlich eingeebnet und das Zelt gut vertäut ist, kommt noch ein Windschutzmäuerchen dazu, und wir machen uns ans Abendessen: Lachs mit Mayonnaisebrot, Suppe. Unser Begleiter ist bis jetzt immer in respektvollem Abstand gefolgt. Um ihn loszuwerden, haben wir ihn ja schon mal mit einigen Steinchen beworfen. Bis jetzt hat er sich nicht in die Nähe des Zelts getraut. Mal sehen, wie die Nacht so wird.

Mittwoch, 22. Mai 1996

Volcán Parinacota
Die Lachs-Reste hat er sich gestern offensichtlich noch einverleibt. Für uns gibt's zum Frühstück Tee und Gebäck und frisches Apfelkompott aus den Äpfeln, die in der Nacht erfroren sind. Heute steht der Vulkan Parinacota auf dem Plan.
Um zwanzig nach acht ist es noch etwas schattig, aber wir müssen pünktlich los, denn wir wissen ja nicht, wie hoch unser Zelt wirklich steht. Vom ersten Augenblick an gehen wir zu dritt bergwärts. Bald kommen wir in die Sonne, und auch die ersten Schneeflecken tauchen auf. Es ist ziemlich hart gefrorener Büßerschnee, wenn auch nur 20 cm hoch, und unser Freund hat bei seiner Größe einige Mühe.
Der Gipfelaufbau ist viel steiler, da können wir ihn unmöglich mitnehmen. Erstens macht er sich die Pfoten kaputt in dem harten Schnee, und zweitens hat er ja keine Steigeisen und könnte leicht den ganzen Hang herunterpurzeln. So improvisieren wir aus Rucksack- und Jackenteilen Geschirr und Leine und machen ihn an einer windgeschützten Stelle fest. Die Versorgung - ein Müsliriegel und etwas Eis (Wasser gibt's nirgends) - ist zugegebenermaßen karg, aber viel mehr haben wir auch für uns nicht.
Der restliche Aufstieg bietet erst mal keine allzugroße Abwechslung. Endlich kommen wir vom Sand/Geröll in den Schnee, und dort steilt sich der Berg kräftig auf. Spalten gibt es keine "echten", und so sind wir gar nicht sicher, ob das hier ein Gletscher ist, oder einfach uralter Schnee, und wo ist die Grenze dazwischen? Man müht sich in mehr oder weniger gutem Schnee nach oben. Es gibt fast nichts Demoralisierenderes als diese gleichmäßigen konvexen Schneeflanken. Man sieht immer nur bis zum nächsten Knick, und da sieht immer alles gleich aus. Das einzige, was sich ändert, ist unsere Geschwindigkeit. Natürlich nicht zum Besseren.
Irgendwann muß es ja auch aufhören: Um 14 Uhr komme ich am Kraterrand an.
Beim letzten Schritt auf den Schneegrat zerreiße ich vor Schreck die Hose mit den Steigeisen. Ein schöner runder Krater mit senkrechten Felswänden zu fast allen Seiten - und riesig! Er dürfte etwa 300 m tief sein und einen Durchmesser von 2 km haben.
Es ist noch ein halbes Stündchen bis zu einem der drei Hauptgipfel (sie sind alle drei nicht in der Höhe zu unterscheiden). 6342 m Höhe, was wir deutlich an unserem Vorwärtskommen erkennen. Der Höhenmesser zeigt 6095 m, läuft also wieder mal gute 200 m falsch. Wie immer in dieser Gegend eine schöne Aussicht und außerordentlich viel Nichts (heißt hier Puna oder Pampa). Hinter dieser Puna sieht man auch den Cerro Taapacá, wo wir vor einigen Tagen waren. Nur 20 km entfernt steht der Nevado Sajama, mit 6540 m der höchste Berg Boliviens. Da wir hier aber in Chile sind, wäre es sicher ein aberwitziger Aufwand, mal da rüber zu gehen. Weit im Hintergrund sieht man die 250 km entfernte Cordillera Real (Königskordillere) um La Paz. Ganz im Vordergrund steht unser direkter Nachbar, der Vulkan Pomerape (6282 m). Unsere Genehmigung gilt auch für ihn. Bei näherem Hinsehen stellt er sich aber als nicht so bergsteigerfreundlich heraus wie der Parinacota. Das Gipfelplateau ist von einem dicken Gletscher bedeckt, der hier und da einige Séracs nach unten entsendet. Der Fels scheint ziemlich kompakt (und damit eher schwierig) zu sein. Allem Anschein nach gibt es auch auf den leichtesten Routen Eis- oder Schneewände von mehr als 50° Steilheit, und das dummerweise ganz oben, wo einem schon ohne technische Probleme die Luft ausgeht. Zu allem Überfluß ist unser Seil in Arica deponiert, also lassen wir besser die Finger vom Pomerape.
Der Rückweg vom Parinacota zum Zelt geht wieder relativ schnell, aber das muß er ja auch - es ist schon drei Uhr, um sechs wird's dunkel. Der Hund hat sich heftig in der Leine verheddert, aber nach der Befreiung erholt er sich schnell wieder.
Zum Abendessen gibt es Thunfisch, Brot und Kartoffelbrei. Wir sind wieder etwas knapp an Wasser, denn das Eis, das wir von weiter oben mitgebracht haben, hat nur 2 Liter Wasser ergeben. Der Hund wird mit altem Brot und der Thunfischbrühe abgespeist. Aber selbstverständlich bekommt auch er seine Wasserration.

Donnerstag, 23. Mai 1996

Lager am Parinacota - Caquena - Putre
Ein am ganzen Körper zitterndes Etwas begrüßt uns, als wir den ersten Blick in die Außenwelt werfen. Aber unters Apsis vorm Zelt hat er ja nicht gewollt, da ist er also selber schuld.
Der Rückmarsch nach Caquena dauert 3 1/2 Stunden. Man sieht häufig Spuren von Pampa-Straußen im Sand, aber die würden wir auch ohne unsere umhertollende Vogelverscheuchanlage nicht zu Gesicht bekommen. Bei der Querung des bofedal bange Minuten, aber er läßt sich davon abhalten, die Llamaherde nochmal anzugreifen. Ob er vielleicht was gelernt hat? Vögel bekommen allerdings nach wie vor keine Gnade. Esel hingegen sind für einen Hund alleine wohl doch ein bißchen groß, während man anscheinend einzelne Llamas mal so umherjagen kann. Da gibt's nur einen nachträglichen Anschiß von Hartmut.
Kurz vor Ende der Sumpfebene hätte ich beinahe einen schweren Fehler begangen: Das Gras jenseits der schmalen Wasserrinne stellte sich bei nährerem Hinsehen als schwimmende Grasinsel in wohl 2 Meter tiefem Wasser heraus. Wohlgemerkt natürlich eiskaltem Wasser; das Eis an der Oberfläche verschwindet hier normalerweise am frühen Nachmittag.
Als wir wieder bei den Carabineros ankommen, weisen uns diese auf ein Auto im Dorf hin, das uns vielleicht zurücknehmen kann, Da meint es das Glück aber gut mit uns - verglichen mit der Aussicht, zwei Stunden lang die "Straße" bis zur Abzweigung von der "Hauptstraße" vorzuwandern und dort vielleicht ein Auto anzutreffen, das uns in Richtung Arica mitzunehmen gedenkt.
Bei diesem Auto hier handelt es sich um einen Pickup mit dem Logo der Stadtverwaltung Putre, der anscheinend eine Art offiziellen Besuch abstattet. Teil davon ist auch ein Essen im Gemeindehaus, an dem wir dank Vermittlung des Herrn Lehrers auch teilnehmen dürfen. Dabei sind übrigens auch alle seine acht Schüler. Das Essen ist sehr gut, möglicherweise Llama (erinnert etwas an Bergziege, siehe Tien Shan 1995). Einer der "Chefs" aus Putre spricht gut Englisch, eine nette Abwechslung für uns. Auch wenn einem vieles nur mehr auf Spanisch einfällt.
Der Verwaltungs-Pickup muß nun noch von irgendwo ein krankes Tier aufladen. Inzwischen kommt hier die klassische Westernstimmung auf. Die Plaza liegt in der Sonne, die zwei weiteren Fahrgäste sitzen am Rand, ein einheimisches Paar. Übrigens: Indiofrauen sind weniger dick, als daß sie enorme Mengen an Kleidung übereinander tragen. Es wird auch an Sommertagen sehr schnell kalt, tagsüber ist es dagegen oft recht warm, aber nie wirklich heiß. Straßenköter (auch unserer) liegen reglos im Sand. Für den hochandinen Touch muß ich jetzt noch dazusagen, daß das Eis in der Ecke vor der Gemeindeverwaltung den ganzen Tag noch nicht geschmolzen ist und es wohl das nächste Vierteljahr auch nicht tun wird.
Alles wartet. Der Wind fegt über die Plaza. Bald wird es Abend werden. Doch da kommt unser Pickup auch schon wieder, auf der Ladefläche ein maunzendes Llama. Nachdem das umsortieren beendet ist, befinden sich im Auto: Fahrer, "Chef", noch jemand, die zwei Fahrgäste, Claudia; auf der Ladefläche ein mittlerweile stilles Llama, ein Einheimischer mit Hund, sowie Hartmut.
Im Gegensatz zu letzterem hat das Llama einen guten Wollpullover an und hält die Kälte besser aus. Für menschliche Mitfahrer auf der Ladefläche sind diese 30 km Sandpiste ungefähr eines der letzten großen Abenteuer, das es auf der Welt noch gibt: Sand überall, durch die Brille sieht man bald nichts mehr, und das Ganze auf 4600 m in der Abenddämmerung, also ungefähr -5° - aber noch scheint die Sonne. Die folgenden dreißig Kilometer Teerstraße nach Putre herunter geht es schneller (also mehr Fahrtwind), und es wird schattiger. Dafür staubt's nicht mehr so ganz. Immerhin bin ich recht froh, als ich meinen wolligen Kameraden in Putre wieder verlassen kann.
Dafür sind wir jetzt eben auch schon in Putre, was wir am Morgen noch gar nicht erwogen hatten.

Freitag, 24. Mai 1996

Putre - Arica
Es kann doch anders: In Putre ist es heute bewölkt. Der Cerro Taapacá ist auf 5400 m abgeschnitten. Ohne Sonne wird es nicht recht warm, und die Dusche hat nur die Sorten kalt und eiskalt (fällt daher aus). Unser gutes Berg-Aroma bleibt uns also bis Arica erhalten. Das Busticket zurück kostet $ 1000, und bergab geht's auch schneller. Nur das Verteilen aller Passagiere auf das Stadtgebiet von Arica dauert eine mittlere Ewigkeit.
Am Nachmittag besorgen wir uns die Bahnfahrkarten für den "Zug" nach La Paz.
Für vernünftige Ernährung ist auch gesorgt: Pizza und Schop (populäre Biersorte in Chile) sind schnell gefunden.

Samstag, 25. Mai 1996

Arica
Um halb acht sind wir, wie man uns gestern empfohlen hatte, am Bahnhof. Der einfahrende Zug besteht aus einem Triebwagen, übrigens auf 1 m Schmalspur-Gleisen. Das größere Gepäck wird auf dem Dach verstaut; nachdem alle Platz genommen haben und Zeitungsverkäufer und Geldwechsler ihre Runde gemacht haben, gibt es Kaffee (aus Porzellantassen) und Kuchen. Dann wird das Geschirr eingesammelt, und es passiert - nichts. Irgendwann kommt die Botschaft "mañana". Die Strecke ist anscheinend blockiert, heute geht nichts mehr. Das Gepäck kommt wieder vom Dach runter, es wird aber im Bahnhof verwahrt, so daß wir nicht wieder mit dem Gerümpel durch die Stadt ziehen müssen. Wir bedanken uns fürs Frühstück (was den Stationsvorsteher sehr amüsiert) und schicken uns an, den Tag irgendwie in Arica zu verbringen. Vormittags besuchen wir das archäologische Museum in San Miguel de Azapa15, mittags den Morro und das dortige Waffenmuseum, das das heroische chilenische Militär bei der Eroberung des Morro und damit der Entscheidung im "guerro pacífico" (deutsch: "Salpeterkrieg") darstellt. A propos Militär: In Arica wimmelt es heute von Soldaten im Feldanzug (braun/braun) und blauen Jungs (wohlgemerkt Farbe, nicht Zustand). Sie versammeln sich bevorzugt an Telefonzellen. Die Telefon-Belagerung dauert den ganzen Nachmittag an, bis sie sich abends auf Gasthäuser verschiebt.

15gelbe Colectivos von Lynch/Chacabuco aus, $ 400. (Die Adresse im Turistel 1996 ist falsch.)

Sonntag, 26. Mai 1996

Arica - La Paz
Wieder sind wir um halb acht am Bahnhof, diesmal gibt es Kaffee und Sandwiches. Offensichtlich ist guter Kuchen sonntags um die Zeit nicht zu bekommen. Im Gegensatz zu gestern setzt sich der Zug gegen zehn Uhr wirklich in Bewegung. Es sind hauptsächlich Ausländer an Bord, darunter viele Deutsche. Eine ganz ungewohnte Häufung - waren wir doch sonst immer die einzigen Touristen weit und breit.
Die Strecke führt durchs Lluta-Tal (wie der Beginn der Straße nach Putre) und dann die Wüste hoch, teils mit kräftiger Steigung. Da muß der Herr Chauffeur anläßlich einer Baustelle schon fünfmal das Anfahren am Berg üben. An der "Estación Central", die so zentral liegt wie die Mondrückseite, gibt es eine gute Viertelstunde Warten auf einen entgegenkommenden Güterzug. Auf der Landkarte konnten wir uns nichts unter diesem Punkt im Nichts vorstellen, aber es ist tatsächlich ein viergleisiger Bahnhof mitten in der Wüste. Hauptgrund für diese Strecke ist wohl der Güterverkehr. Nachdem Bolivien im Salpeterkrieg seinen Meerzugang losgeworden ist, läuft ein Großteil des Exports über diese kleine Schmalspurbahn. Weiter quält sich der Zug bergauf durch Täler und Schluchten und Tunnels, bis endlich der Altiplano bei etwa 3500 m erreicht ist. Früher waren hier Zahnrad-Dampflokomotiven im Einsatz, denn diese Höhe vom Meer aus auf etwa 100 km zu erreichen, ist für eine Bahnstrecke recht spektakulär. Oft sieht die Gegend aus wie die typische Szene für Zugüberfälle in Wildwestfilmen. Dementsprechend kommt jetzt auch die Prärie: Der Zug ist ein richtiger Schienen-Bus, und in den ausgeleierten Meterspur-Gleisen hoppelt er eifrig hin und her. Entsprechend lustig sieht es aus, wenn die Köpfe vor uns alle im Gleichtakt auf und ab gehen.

Ein 'Bahnhof' irgendwo im Nirgendwo
Ein "Bahnhof", irgendwo im Nirgendwo de Altiplanos.

Neben einigen weiteren Stops gibt es an der chilenisch-bolivianischen Grenze in Visviri eine halbe Stunde Aufenthalt. Visviri liegt auf über 4000 m, aber außer der Grenzstation ist kaum menschliche Anwesenheit sichtbar. Im Schatten sehen wir den vereisten Brunnen - mittags.
Danach fährt der Zug die ganze Strecke durch, so "durch" es eben geht auf diesen Gleisen. Nach der Grenze folgt eine lange unbewohnte Schlucht, die "Steinerne Stadt". Als es wieder flacher wird, werden die Gleise endgültig katastrophal, das Festhalten der Teetasse wird zum Abenteuer. Erst kurz vor La Paz wird es wieder besser; inzwischen ist es dunkel. Von El Alto (4030 m), wo auch der Flughafen ist, arbeitet sich der Zug eine halbe Stunde lang zum Bahnhof auf 3600 m herunter. Dabei hat man eine großartige Aussicht auf das Lichtermeer von La Paz tief unten im Talkessel16. Wir kommen um 22.15 an im Bahnhof von La Paz, Hauptstadt von Bolivien, ein einziges Gleis und ein Bahnsteig.

16Auch wenn La Paz mit knapp zwei Millionen Einwohnern nicht unbedingt eine Weltstadt ist, kann solch eine Aussicht kaum ein anderer Ort bieten.

Montag, 27. Mai 1996

La Paz
Heute sehen wir uns die Stadt mal etwas genauer an. Es sieht ziemlich chaotisch aus, wenn man Chile gewohnt ist: fast überall entlang der Hauptstraße Marktbuden, und Fußgänger und Autos wälzen sich so zwischendurch. Ein weiteres Merkmal von La Paz sind die deutlichen Höhendifferenzen: Die Hauptstraße läuft im Tal hinunter, und alle Seitenstraßen gehen in mehr oder weniger gut nachgeahmten Rechteck-Rastern (wie sonst auch in Südamerika) wieder hinauf, und das mit teilweise sicher über 15% Steigung. Für eine Großstadt ist das eine eigenartige und sicher auch nicht einfache Lage. Es wird sowieso nicht ganz klar, ob die Anstrengung beim Hochlaufen dieser Gassen (die meisten Straßen sind recht eng) von der Höhenlage oder dem Verkehrsdreck her kommt.

La Paz
Straße in La Paz. Der Hang gegenüber ist bis oben an den Rand zersiedelt.

La Paz
Die höchstelegene Hauptstadt der Welt

Für die folgenden Tage finden wir die folgende Einteilung: Mi/Do Huayna Potosí, Sa-Di Illimani. Nach einem kurzen Besuch beim Club Andino werden wir gleich von einem älteren Herrn (offenbar Funktionsträger dort) abgeschleppt zu seinem Reisebüro, wo er uns relativ gute Angebote für diese zwei Berge machen kann17.
Die Berge selbst sollten wir schon finden, also brauchen wir keine Führer oder Träger; der Transport ist hier sowieso das allergrößte Problem. Das Einkaufen in La Paz ist relativ mühsam, weil man sich alles in irgendwelchen Buden am Straßenrand zusammensuchen muß. Die Preise bei den meisten Dingen, besonders Lebensmittel, sind übrigens überall gleich, und man kann relativ wenig handeln (außer man braucht gerade mal 10 Kilo von irgendwas).
Abends ausnahmsweise mal deutsche Gesellschaft: Wir treffen uns mit einem Landsberger aus dem Zug von Arica und seinem Kameraden, der von Ecuador hier her gereist ist, und einem weiteren Leidensgenossen aus dem Pampa-Schienenbus.

17La Paz-Huayna Potosí US$ 90, La Paz-Illimani US$ 150 - letzteres ein Sonderpreis. Jeweils hin und zurück, für bis zu 4 Personen. Das Auto ist also komplett "gemietet" damit.

Dienstag, 28. Mai 1996

La Paz - Tiwanaku - La Paz
Heute widmen wir uns dem Standardprogramm, eine geführte Halbtages-Exkursion nach Tiwanaku. Der Innen-Teil der Kirchenbesichtigung unterwegs fällt der Tatsache zum Opfer, daß der Pfarrer mit dem Schlüssel nicht aufzutreiben ist.
In Richtung Tiwanaku wird gerade eine neue asphaltierte Straße gebaut. Wenn man sich die alte ansieht und bedenkt, daß es eine Hauptverbindung nach Peru ist, dann ist das bitter nötig.
Die Tiwanaku-Kultur (500 v.C. - 1200 n.C.) ging bereits 200 Jahre vor der Ankunft der Inkas zugrunde. Mangels Schrift ist praktisch nichts überliefert, und den Rest haben einerseits die Inkas besorgt - in deren Sonnenkult natürlich frühere Zivilisationen keinen Platz hatten -, andererseits die Spanier und zuletzt die einheimische Bevölkerung, die die schönen großen Blöcke der Tempel als willkommenen Steinbruch genutzt haben. Im Ergebnis stand hier buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen, als die Archäologen mit der Rekonstruktion in den 30er Jahren begannen. Nur die Akapana-Pyramide, die jetzt unterm Sand langsam freigelegt wird, scheint original zu sein; der Rest des Tempels ist auf herumliegenden Original-Steinen mit mehr oder weniger Phantasie rekonstruiert worden. Man erkennt es daran, daß in der Pyramide die Steine so aufeinanderliegen, daß man nirgends ein Blatt Papier dazwischenschieben könnte. Im Rest des Tempels gibt es teilweise offensichtliche Lücken, So gesehen, sind Rekonstruktoren von heute offensichtlich den ursprünglichen Erbauern bei weitem unterlegen. Einzig die großen Monolith-Figuren und das Sonnentor waren zu groß zum Verschleppen und sind noch dort, wo sie wohl mal gestanden haben. Aber Tiwanaku muß man schon mal gesehen haben.
Zurück in La Paz, erledigen wir noch einige Einkäufe für unsere morgige Bergtour am Markt, den wir auch tatsächlich auf Anhieb wiederfinden. Abends weist uns das Essen im Gasthaus wieder in unsere Schranken; wir lernen daraus: Nicht in ein bolivianisches Restaurant gehen, ohne mindestens seit dem Vormittag strikt gehungert zu haben. Pique Macho ist übrigens ein empfehlenswertes Gericht (Fleisch, Würstchen und Pommes frites mit pikanter Soße), aber dieses Exemplar zu Bs. 22 war sowohl sehr scharf, als auch entschieden zuviel. Der Name heißt übrigens wirklich "Gehacktes für den Macho", damit die Herren gut beieinander sind.

Mittwoch, 29. Mai 1996

La Paz - Laguna Zongo - Hochlager am Huayna Potosí

Huayna Potosi über der Laguna Zongo
Huayna Potosí über der Laguna Zongo.

Am Morgen werden wir zum Zongo-Stausee gefahren. Der See liegt auf 4700 m an einer der Paßhöhen hinter El Alto, die den Altiplano vom Urwald trennen. Im Gegensatz zu den anderen Gebirgen ist die Cordillera Real, die den Altiplano im Nordosten begrenzt, ein reines Faltungsgebirge ohne Vulkanismus; es sieht daher unseren Alpen sehr ähnlich. Der Huayna Potosí gilt als der am leichtesten erreichbare Sechstausender überhaupt, eine Fahrstunde von La Paz. Vom See aus steigen wir entlang einer Moräne und einen Schutthang hoch, bis wir auf 5130 m den Gletscher betreten. Den Lagerplatz "Campamiento Argentino" 300 m höher in einer Gletschermulde erreichen wir nach vier Stunden.
Dort stehen vier Zelte; eines ist bewohnt von einem Bolivianer, der seinen Anseilgurt in La Paz vergessen hat. Wir bauen unser Zelt ordentlich auf (mit Windschutzmauer), denn er sagt, es sei recht windig gewesen letzte Nacht.
Bald kommt eine Österreicherin (übrigens aus Neustift/Stubai, arbeitet öfters in der Franz-Senn-Hütte) mit ihrem Führer vom Gipfel zurück, und gegen halb vier ein weiterer Österreicher (dem wir mit einem Thunfischbrot sichtbar einen Gefallen tun können). Während sie den Normalweg gegangen ist, wollte er durch die Eiswand, ist aber an zuviel Schnee gescheitert und dann auch über den Normalweg aufgestiegen. Fast alle nehmen unseren Tee dankbar an, so verlegen wir uns für den Nachmittag aufs Gemeinnützige. Um halb fünf trudeln zwei Australier mit ihren zwei Führern ein, erstere ziemlich fertig mit der Welt. Ihre einzige Akklimatisation bestand in ungefähr einer Woche La Paz, und sie haben keinerlei Erfahrung im Höhenbergsteigen. Der Mount Cook ist wohl doch ein ganzes Stückchen kleiner. Die Führer sind allerdings selber schuld, daß sie nun zwei völlig Fertige durch die Gegend zerren müssen - sie hätten ihre Gäste doch vorher auch mal genauer unter die Lupe nehmen können.
Die Österreicherin war um halb fünf losgegangen und um halb drei zurückgekommen. Wir hatten uns die Gipfeletappe eigentlich etwas kürzer vorgestellt, es sind ja nur 600 Höhenmeter. Immerhin: Der eine Führer sagt, mit guter Akklimatisation würde der Aufstieg 4-5 Stunden dauern. Auffällig ist, daß die meisten Leute den Berg im "Komplettpaket" mit Führer angehen. Das kostet bei zwei Leuten ungefähr das Vierfache dessen, was uns der Transport alleine kostet. Wir werden ja morgen sehen, ob's einen großen Unterschied macht.

Donnerstag, 30. Mai 1996

Huayna Potosí und zurück nach La Paz

Morgendlicher Aufbruch zur Gipfeletappe des Huayna Potosi
Morgendlicher Aufbruch zur Gipfeletappe am Huayna Potosí.

Natürlich haben wir den Wecker um fünf Uhr nicht gehört. So wachen wir erst kurz nach sechs auf, als es beginnt, hell zu werden. Ein schöner Sonnenaufgang entschädigt für die morgendliche Kälte (-15°). Die Route ist nicht sonderlich schwierig und gut gespurt. Sie windet sich zwischen den wilden Spalten nach oben halb um den Berg, wo der einfachste Zugang liegt. Der Gipfel wird über einen hübschen, leicht luftigen Schneegrat erreicht; ohne die Spuren unserer Vorgänger wäre es hier schon ein wenig lästig.
Hier weht auch wieder ein leichter Wind, der die Gefahr des totalen Hitzekollapses bannt, man muß die Hemdsärmel wieder herunterkrempeln. Nach nur 3 1/2 Stunden sind wir am Gipfel, 6088 m. Auf die letzten zwei Meter verzichten wir allerdings, denn dieses Schneegebilde sieht nicht sehr verläßlich aus. Auf der anderen Gratseite geht es ausgesprochen luftig runter in die Westwand; im Hintergrund kann man den Altiplano überblicken und den Titicacasee finden. Auf der Ostseite ist das Gebirge nach einigen teils spektakulären Fünftausendern rasch zuende; dahinter sieht man nur das Wolkenmeer, das den Urwald verbirgt. Im Norden und Süden erkennt man die nächsten Sechstausender: Ankohuma/Illampu und Illimani. (Es gibt insgesamt 6 Sechstausender in der Cordillera Real, von Nord nach Süd: Illampu, Ankohuma, Chearoco, Chachacomani, Huayna Potosí und Illimani.)

Der Gipfelgrat am Huayna Potosi
Der Gipfelgrat am Huayna Potosí ist wenig schwierig, aber trotzdem nicht langweilig

Der Rückweg geht schnell vonstatten; auch der etwas heikle vereiste Hang, wo die Route vom Lager aus das Hochplateau erreicht, macht keine Probleme. Kurz vor zwölf am Lager zurück, kommt ein Pärchen aus dem Tal hoch. Wie sich heraustellt, kommen sie aus Rottweil. So findet unser Windschutzmäuerchen neue Nutzer. Am Lager ist es auch jetzt windig, obwohl es fast überall sonst windstill und sehr warm war. So warm, daß wir in der Hütte am Stausee18 innerhalb einer Viertelstunde zwei Liter Limonade schlachten.
Am Abend kommen wir im Restaurant schon weiter als zuvor. Irgendwann wird es uns vielleicht tatsächlich gelingen, alles aufzuessen.

18Erinnert sehr stark an eine Hütte in den Alpen, architektonisch wesentlich einfallsreicher als alle anderen Gebäude in Bolivien (die meist nur quaderförmige Schachteln sind).

Freitag, 31. Mai 1996

La Paz - Lago Titikaka - La Paz
Für die heutige Exkursion gab es zwei Varianten im Reisebüro: Nur Transport an den See, oder Fahrt mit Besuch von zwei Inseln im Titicacasee mit Führung. Es stellt sich heraus, daß wir im Bus die einzigen mit der zweiten Option sind - so kommen wir in den Genuß einer individuellen Führung.
Im Ort Huatajata steigen wir in ein Motorboot um. Zum Glück hat es zwei Außenbordmotoren, so daß der Ausfall eines Motors auf halbem Weg zur ersten Insel nicht allzu verheerend ist. Wir sind zwar im kleinen Teil des Titicacasees, etwa 1/6, und nur maximal 25 m tief statt 400, aber naß und kalt ist dieser Teil auch genug. Der See ist im Sommer 12° warm, im Winter erreicht er in Ufernähe fast den Gefrierpunkt. Daher können die meisten Leute hier auch nicht schwimmen.
Die erste Insel - die Steinhausinsel (den Originalnamen habe ich leider vergessen) ist von einem breiten Schilfgürtel umgeben, in dem sich viele Enten tummeln. Auf der Insel sieht man einige Ruinen aus der Zeit nach dem Ende von Tiwanaku, aber vor der Ankunft der Inkas (also zwischen 1200 und 1400 n.Chr.): Häuser und Grabtürme. Es scheint in den letzten Jahrhunderten immer wieder Überflutungen und Dürrezeiten gegeben zu haben, und so kamen und gingen die Bewohner.
Auf der zweiten Insel - Suriqui - wurden die traditionellen Schilfboote gebaut, z.B. auch für eine der Expeditionen von Thor Heyerdahl. In äußerst aufwendiger Arbeit wird das Schilf gebündelt und mit einfachen Werkzeugen verfestigt. Dabei werden die Haltefäden durch die ganze Länge des Bootes durchgefädelt, es gibt also ungefähr fünf Knoten im ganzen Boot. Benutzt werden solche Boote allerdings heute nicht mehr. Nach der halbstündigen Rückfahrt über den See gibt es im Gasthaus Regenbogenforelle, übrigens ausgezeichnet.

Schilftransport auf dem Titikaka-See
Schilftransport und Segelboot auf dem Titikaka-See.

Schilfbootbau auf der Insel Suriqui
Schilfbootbau auf der Insel Suriqui im Titikaka-See

Von der Reiseleiterin erfahren wir noch einiges über Bolivien, als wir auf den Bus warten. So sieht die hiesige Seite der Grenzstreitigkeiten so aus, daß Chile mal ein paar Grenzsteine versetzt oder einen bolivianischen Fluß kurz mal nach Chile abgegraben hat. Einige Jahre zuvor sind chilenische Reiseunternehmen von San Pedro aus an die (bolivianische) Laguna Verde jenseits des Lincancábur gefahren und haben ihren Teilnehmern dort von diesen landschaftlichen Schönheiten Chiles erzählt. Der zweite interessante Punkt ist, daß es nicht mal offiziell eine Schulpflicht gibt. In der Stadt gehen 80%, auf dem Land unter 40% der Kinder in die Schule. Drittens ist die Einstellung der Leute zu ihrer Regierung recht interessant: Der Staatspräsident war längere Zeit in den USA und zeichnet sich durch eine etwas eigentümliche Aussprache des Spanischen aus (so, daß es sogar mir aufgefallen ist). Deshalb nennen sie ihn "El Gringo". Die meisten Regierungsmitglieder haben Verwandte in Chile, was die Kompromisse mit diesem Land sehr gummiartig werden läßt. Und, zum Schluß: Die bolivianische Telecom gehört gar nicht Bolivien, sondern einem chilenisch-italienischem Konsortium. Soweit also zur nationalen Identität.
Zurück in La Paz, irren wir auf der Suche nach dem Lebensmittelmarkt durch die Stadt. Nach Dingen wie Leberwurst in Dose oder Gummibärchen (übrigens ein chilensches Produkt) suchen wir eine halbe Ewigkeit, weil jeder Stand fast dasselbe Standard-Sortiment hat. Unsere Rettung ist, daß wir zufällig am neueröffneten "Supermarkt" vorbeikommen und dort einiges finden. Zum Such-Streß kommt schließlich auch das Verkehrschaos. Bolivianische Autofahrer lernen in der Fahrschule offenbar nur, daß ein Auto ungefähr vier Räder hat und das wichtigste daran die Hupe ist. So fährt dann alles kreuz und quer (sofern nicht der übliche Stau, besonders in der Calle Illampu, ist), und dazwischen quirlen die Fußgänger umher. Die meisten Fahrzeuge sind sowieso Minibusse (etwa 8 Personen). Wieso die überhaupt Kundschaft haben, wo man zu Fuß doch schneller ist, ist mir ein Rätsel.

Samstag, 1. Juni 1996

La Paz - Palca - Estancia Una - Puente Roto
Zum Illimani lassen wir uns wieder fahren. Wie sich zeigt, war das eine gute Entscheidung. Für 40 km Luftlinie brauchen wir 3 1/2 Stunden, denn die Straße (die etwa einem mitteleuropäischen Feldweg ähnelt) schlängelt sich an diversen Schluchten vorbei oder auch an abgrundtiefen Steilhängen\footnote{Das ist natürlich übertrieben. Ein paar Tage später werden wir lernen, was abgrundtiefe Steilhänge wirklich sind.} entlang, um immer wieder auf kleine Pässe aufzusteigen und dann wieder ins Tal herunterzukommen.
Auch für den Weg von der Estancia Una (3650 m) bis zum "Basislager" machen wir es uns der langen Strecke wegen etwas einfacher und nehmen ein Packpferd, das uns die Rucksäcke hochträgt. Auch so merkt man, daß seit dem Huayna Potosí nur ein Tag vergangen ist, an dem wir uns nicht mal richtig erholt haben. Immerhin geht es hier um Sechstausender, und das ist in jedem Fall nicht gerade HallenHalma.
Der Basislager-Platz ist eine Wiese am Fuß des Berges auf 4400 m. Man warnt uns mehrfach vor Dieben aus der Umgebung hier. Die Bergbauern wohnen und leben offenbar unter äußerst ärmlichen Verhältnissen. Trotzdem ist es bedenklich, wenn nach Bericht unseres Pferdeführers Bergschuhe (vor dem Zelt liegende Außenschuhe) gestohlen wurden, nur um sie einfach in die Schlucht zu werfen.

Sonntag, 2. Juni 1996

Puente Roto - Nido de Cóndores

Illimani
Illimani. Die Route folgt dem langen Felsrücken rechts der Bildmitte.

Wir hatten sowieso alle Ausrüstung im Zelt verstaut; am Morgen ist natürlich alles noch da. Vermutlich geschehen solche Diebstähle hauptsächlich durch massenhaften Auflauf von Leuten, die unter vorgeblichem Interesse oder Betteln dann unauffällig herumliegende Sachen verschwinden lassen.
Daß es ganz schön viel ist, merkt man, wenn man es tragen muß. Die Träger brauchen bis zum Nido de Cóndores fünf Stunden, aber wir tragen unser Zeug trotz der Aussicht auf eine längere Zeit selbst. Da der deutschsprachige Führer über die Königskordillere wohl schon ziemlich veraltet ist, leisten wir uns auf dem Weg ein paar kleinere Verhauer. Trotzdem sind wir nach 5 1/2 Stunden am Nido de Cóndores (Kondornest), 5450 m. Das ist eine Schuttplattform auf dem Grat dort, wo der Fels bald unter dem Gletscher versinkt. Das Wetter ist heute nicht so toll, besonders am Illimani hängen die Wolken fest. Dafür war es beim Aufstieg aber nicht so heiß. Die Amerikaner, die uns gestern begegnet sind, hatten neun Stunden zum Nido de Cóndores und acht für den Gipfel gebraucht.
Kurz vor den Nido de Cóndores begegnet uns übrigens der Österreicher vom Huayna Potosí (siehe Thunfischbrot), aber in Eile wegen des Busses um 15 Uhr an der Estancia Una.

Montag, 3. Juni 1996

Illimani
In der Nacht hat es sich weiter bewölkt, und es hat sogar ein wenig geschneit; morgens um vier liegt eine fast geschlossene Wolkendecke überm Altiplano, und dazu sind auch die Täler dicht. Dazu geht es uns beiden nicht so gut - Claudia hat schlecht geschlafen, und mein Husten (seit dem Huayna Potosí) wird hier oben immer klangvoller. In den Alpen wäre das ein klarer Fall von Ausschlafen und Runtergehen. Aber hier? Am Donnerstag geht unser Flug, so einfach kann man es nicht nochmal versuchen. Also machen wir uns kurz vor sechs doch auf den Weg, in der Hoffnung, daß all die Leute recht haben, die behaupten, Schlechtwetter würde im Mai/Juni höchstens einen halben Tag dauern.
Zuerst läuft die Route am Grat entlang, bis dieser in eine Wand mit Sérac-Abbrüchen übergeht. Über diese Riesenrampe muß man sich durchwursteln. Die Routensuche haben erfreulicherweise schon die Gruppen vor uns gemacht, wir können die Spuren meist noch sehen. Mit guter Westalpenerfahrung kann man fast alles ohne Seil gehen, die Spalten sind nicht allzu gefährlich, weil der Schnee nicht so stark aufweicht wie bei uns im Sommer19. Diverse Steilaufschwünge, die geschickt an den großen Abbrüchen vorbeiführen, sind allerdings etwa 45° steil, da sollte man sich trotz recht guten Firns keine großen Fehltritte leisten. Die Schlüsselstelle ist ein etwa 45-50° steiler Hang, der teilweise vereist ist und mit Seilsicherung schon ein besseres Gefühl hinterläßt, als es ohne wäre. Meist können wir gerade eine Steilstufe weiter sehen, denn wir sitzen in den Wolken, die von Nordwesten an den Berg anrennen. So nimmt das flachere Stück oben kein Ende, und auch der Gipfelgrat wird einfach immer flacher und ist irgendwann mal waagerecht; die Spuren hören auf. Jemand von einer früheren Gruppe hat eine Wunderkerze auf den Grat gesteckt, das muß wohl der Gipfel sein. (Anmachen können wir sie wegen des starken Windes nicht). So stehen wir auf dem höchsten Punkt der Cordillera Real, dem Illimani (6460 m) und können die schöne Aussicht auf La Paz gar nicht würdigen. Besonders nach Osten hätten wir gerne sehen können, da muß fast unmittelbar der Urwald anfangen. Aber wir können mir unseren 5 1/2 Stunden Gipfeletappe ganz zufrieden sein.
Am Nachmittag steigen wir erst mal bis 4800 m ab, denn morgen mittag müssen wir wieder an der Estancia Una sein. Der Weg unterhalb des Nido de Cóndores beinhaltet einiges an leichter Geröllkletterei und -Rutscherei mit besonders hübschen geröllbedeckten Platten, wir würden also die 1800 m Abstieg kaum an einem Vormittag schaffen. Die Wolken lösen sich übrigens im Lauf des Nachmittags auf.

19 in Bolivien ist es ja auch fast Winter. Da im Südsommer Regenzeit ist, liegt die Saison zum Bergsteigen wie bei uns zwischen Mai und August.

Dienstag, 4. Juni 1996

zurück nach La Paz

Die Nebengipfel des Illimani (ca. 6000 m)
Die Nebengipfel des Illimani (ca.6000 m), von unserem (Abstiegs-)Lager auf 4800 m gesehen.

Heute morgen ist es bis auf dichte Wolken im Tal schön. Aber man kann sich den Gipfeltag eben nicht immer aussuchen. Einen Vorteil hat es, daß wir gestern nicht bis zur Wiese herunter sind: Dort ist es neblig, und alles ist voller Rauhreif. Hier oben können wir wenigstens ein trockenes Zelt einpacken.
Nach etwa drei Stunden Abstieg und Verteilen der restlichen Süßigkeiten sind wir wieder an der Estancia Una. Für unsere Trillerpfeife finden wir in Träger und Pferdetreiber Felix einen dankbaren Abnehmer, so fußballverrückt, wie das ganze Volk ist. Die Rückfahrt gestaltet sich um einiges abenteuerlicher als gedacht. Mit einer halben Stunde Verspätung kommen unsere Abholer mit kochendem Kühler an.
Auch mehrfaches Wassernachfüllen hilft nichts, so daß sie schließlich versuchen, das Leck durch Einfüllen mehrerer Eier in das kochende Kühlwasser zu flicken20. Trotzdem (oder gerade deswegen?) bleibt das Auto an jeder Steigung nach einer Reihe von Fehlzündungen stehen. Man kämpft sich durch bis zum Ort Palca, aber da funktioniert das Telefon nicht. Das Ende vom Lied: Für uns wird ein daherfahrender Minibus gechartert, der gerade am Ende seiner Tour ist. Felix, den wir mitgenommen hatten, muß in La Paz Bescheid telefonieren, damit Hilfe nach Palca kommt.
Abends gibt's heute Pizza. Wir schaffen immerhin drei Viertel, da wir unvorsichtigerweise jeder eine bestellt haben. In diesem Restaurant gibt es auch Wein, die Portion zu Bs 15 (das sind 5 Mark) stellt sich als ganze Flasche heraus.

20Für den gottverlassenen Ort, an dessen Brunnen das geschieht, ist es die Show des Jahrhunderts. Die ganze Schule steht um uns herum.

Mittwoch, 5. Juni 1996

Ausflug in den Yungas
Zum Glück haben sich doch noch zwei weitere Touristen für die heutige Exkursion in den Yungas gefunden. Eine wunderbare neue Teerstraße verläßt La Paz-Miraflores in Richtung Nordosten und führt auf den 4650 m hohen Yungas-Paß. Danach geht es fast nur noch bergab. Gute 20 km später endet der Teerbelag, die Straße überwindet einen kleinen Paß (ca. 3300 m). Das Stück von dort bis Coroico ist außerordentlich spektakulär. Die einspurige Straße mit der Breite eines Feldwegs arbeitet sich an den Hängen eines tief eingeschnittenen und verzweigten Tals über 2000 Höhenmeter nach unten. Die ganze Gegend ist üppig grün; im mittleren Bereich ist es fast immer neblig, und alles ist voll mit patschnassem Regenwald. An eindrucksvollen Ausblicken fehlt es nicht: Meist führt die Straße durch senkrechte Felswände oder aberwitzig steile bewaldete Hänge, deren Fuß zwischen 500 und 1000 Meter tiefer liegt. Wenn hier einer einen Fahrfehler macht, ist das allenfalls noch ein Problem für die Angehörigen. Manchmal geht es auch unter kleinen Wasserfällen durch. Auf der ganzen Strecke herrscht Linksverkehr, damit die Fahrer in den Ausweichen den vorhandenen Platz besser abschätzen können. Besonders wenn man auf der linken Seite sitzt, sieht man gut, daß dieser Platz nicht gerade üppig ist.

Straße in die Yungas
An einer der breiteren Stellen der Straße nach Coroico

Nachdem die Talsohle erreicht ist, geht es nach Coroico wieder ein Stück hinauf, und nach dem Mittagessen dort schauen wir uns eine "Pflanzung" an. Das ist eher ein ziemliches Durcheinander, das zudem noch an einem steilen Hang liegt. Neben den Mandarinen, die gerade reif sind, gibt es Bananen, Zitronen, Papayas, Kaffee, Zuckerrohr und kleine grüne Papageien, die das alles gerne fressen. Die Coca-Pflanze hätten wir uns etwas spektakulärer vorgestellt: gerademal handhohe Stengelchen tragen je ein Blatt.

Bananenpflanzen vor dem Hügelland von Coroico
Bananenpflanzen vor dem Hügelland von Coroico

Donnerstag, 6. Juni 1996

La Paz - Santiago
Das vorbestellte Taxi zum Flughafen kommt zwar nicht pünktlich, ist aber pünktlich am Flughafen. Dafür, daß neben den diversen bolivianischen Steuern, die schon im Ticketpreis zu zahlen waren, nun auch noch US$ 20 pro Person Airport Tax zu zahlen sind, könnten sie ihren "internationalen" Flughafen ruhig etwas besser organisieren.
Nach 35-minütigem Flug überm sonnigen Altiplano an den Payachata-Vulkanen und dem Cerro Taapacá vorbei kommt erst mal die Zwischenlandung in Arica im Nebel. In Santiago ist es mit 13° relativ frisch, die Bäume werden kahl. Weitere spontane Eindrücke, aus Bolivien kommend: Ein ordentliches Land, disziplinierter Autoverkehr - anstatt wild durcheinanderfahrender und plötzlich anhaltender Colectivos und ständigem Gehupe ist es hier fast verdächtig ruhig. Was wir natürlich ganz vergessen haben, ist, daß heute Feiertag ist, und aus dem Museum wird wieder nichts.

Freitag, 7. Juni 1996

Santiago - Frankfurt
Wir sind wunderbar pünktlich am Flughafen Santiago, um dort zu erfahren, daß unser Flug einiges an Verspätung hat. Schließlich sind es 3 1/2 Stunden, die bis London natürlich nicht aufzuholen sind. So werden wir von der BA auf den nächsten erreichbaren Flug nach Frankfurt umgebucht. Die Gesellschaft heißt British Midland, und die Stewardessen tragen noch unmöglichere Hüte als die von der British Airways.
Unser Gepäck war für diese Umbuchung wohl etwas zu langsam, und es kommt dann mit dem nächsten Flug. Da wir der Bahnverbindung wegen nicht so lange warten können, bemühen wir den "Lost Baggage" Schalter, und am Montag wird es dann auch (über Friedrichshafen eingeflogen) nach Hause gebracht.
Letzte inhaltliche Änderung am 25. Februar 1997 durch Hartmut Bielefeldt
Letzte formelle Änderung am 31. Januar 2000